Nach dem Sinn und Zweck des § 54 Abs. 4 SchulG NRW ist ein vorübergehender Ausschluß vom Schulbesuch wegen Gesundheitsgefährdung anderer nur möglich, wenn die Gefährdung auf einer Erkrankung des auszuschließenden Schülers beruht.
Die Erkrankung muß sich insbesondere auf eine ansteckende Krankheit i. S. d. Infektionsschutzgesetzes beziehen.
Sofern die Gesundheitsgefährdungen anderer Mitschüler durch Gewalttätigkeiten des auszuschließenden Schülers veranlasst sind, müssen diese auf einer krankhaften nicht steuerbaren Verhaltensstörung des auszuschließenden Schülers beruhen (hier nicht feststellbar).
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 1. März 2010 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. Februar 2010 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
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G r ü n d e
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Der – sinngemäße – Antrag der Antragsteller,
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die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruches vom 1. März 2010 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. Februar 2010 wiederherzustellen,
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ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
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Die Antragsteller sind analog § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt, da mit dem vorläufigen Ausschluss ihres Sohnes Q. nicht offensichtlich und eindeutig ausgeschlossen ist, dass sie dadurch in ihrem elterlichen Erziehungsrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes – GG -, Art. 8 Abs. 1 Satz 2 der Landesverfassung NRW, zu welchem auch die Geltendmachung des Rechts auf Bildung ihres Kindes gehört, verletzt werden.
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Die nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der angefochtenen Verfügung durch die Antragsgegnerin einerseits und dem Interesse der Antragsteller andererseits, vorläufig von der Vollziehung der Verfügung verschont zu bleiben, fällt zu Gunsten der Antragsteller aus.
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An der sofortigen Vollziehung des Ausschlusses des Sohnes der Antragsteller vom Schulbesuch gem. § 54 Abs. 4 SchulG besteht kein öffentliches Interesse, weil sich diese Maßnahme nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig darstellt.
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Die Antragsgegnerin hat den Sohn der Antragsteller auf der Grundlage des § 54 Abs. 4 SchulG vom Schulbesuch wegen des Vorwurfs ausgeschlossen, aus ihrer Sicht liege bei dem Sohn eine krankhafte Verhaltensstörung mit Aggressionserscheinungen vor, die einer schulärztlichen Abklärung bedürfe. Die Einschätzung der Antragsgegnerin stützt sich in ihrer Entscheidung auf wiederholte Aggressionen des Sohnes der Antragsteller gegen einen Mitschüler, der von dem Sohn körperlich misshandelt wurde und dessen Schulmaterialen von dem Sohn beschädigt wurden. Allerdings ist es bereits vor diesen Vorfällen im Februar 2010 zu einem massiven Fehlverhalten von Q. gegenüber Mitschülern und Lehrern gekommen. Eine schwerwiegende Körperverletzung von Q. gegenüber einer Mitschülerin führte im August 2008 zu einer Ordnungsmaßnahme der Teilkonferenz (vorübergehender Ausschluss vom Schulunterricht für 5 Tage).
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Die nunmehr von der Antragsgegnerin für die Maßnahme des vorläufigen Ausschlusses vom Schulbesuch herangezogene Ermächtigungsgrundlage des § 54 Abs. 4 SchulG greift im vorliegenden Fall nicht ein. Nach Satz 1 dieser Vorschrift können Schülerinnen und Schüler, deren Verbleib eine konkrete Gefahr für die Gesundheit anderer bedeutet, vorübergehend oder dauernd vom Schulbesuch ausgeschlossen werden. Nach Satz 2 trifft die Entscheidung die Schulleiterin oder der Schulleiter auf Grund eines Gutachtens des schulärztlichen Dienstes. Satz 3 bestimmt, dass bei Gefahr im Verzuge die Schulleiterin oder der Schulleiter befugt ist, einen vorläufigen Ausschluss vom Schulbesuch auszusprechen. Nach dem Sinn und Zweck dieser Regelungen, Krankheiten der Schülerinnen und Schüler vorzubeugen (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 1 SchulG), sind von § 54 Abs. 4 SchulG die Fälle erfasst, in denen die Gesundheitsgefährdung anderer Schülerinnen und Schüler auf einer Erkrankung des vom Schulbesuch auszuschließenden Schülers beruht. Dabei belegt der Zusammenhang der Vorschrift mit dem Infektionsschutzgesetz (vgl. § 54 Abs. 3 Satz 2 SchulG), dass sich § 54 Abs. 4 SchulG insbesondere auf die in § 34 des Infektionsschutzgesetzes aufgezählten – ansteckenden – Krankheiten bezieht.
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Vgl. VG Münster, Beschl. v. 9. März 2007 – 1 L 146/07 -, n.v.; ferner: Jülich/van den Hövel/Packwitz, Schulrechtshandbuch Nordrhein-Westfalen, 18. Erg. Lfg. Februar 2010, § 54 Rdnr. 10; Heckel/Avenarius, Schulrechtskunde, 7. Aufl., Neuwied 2000, S. 572.
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Dass der Sohn der Antragsteller an einer derartigen Krankheit leidet, ist weder von der Antragsgegnerin substantiiert vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Die Maßnahme lässt sich auch dann nicht auf § 54 Abs. 4 Satz 3 SchulG stützen, wenn die Vorschrift auch solche Fälle erfassen sollte – wovon die Antragsgegnerin offensichtlich auszugehen scheint -, in denen die Gesundheitsgefährdung anderer Schülerinnen und Schüler auf einem krankheitsbedingten Verhalten des auszuschließenden Schülers beruht und dieses zu Gewalttätigkeiten gegenüber Mitschülern führt.
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Vgl. hierzu: Jehkul/Kumpfert/Budach/Ernst/Hebborn/Menzel, Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen, 1. Aufl. 2005, § 54, Rdnr. 4.
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Die Antragsgegnerin hat keine hinreichenden Anhaltspunkte geltend gemacht oder substantiiert dargelegt, dass das dem Sohn der Antragsteller zur Last gelegte Verhalten auf eine krankhafte Verhaltensstörung im genannten Sinn zurückzuführen ist. Nach summarischer Durchsicht der Akten lässt sich zwar bei dem Sohn der Antragsteller ein in der Schule der Antragsgegnerin immer wieder zum Ausbruch kommendes überschießendes Aggressionspotential feststellen, doch ist in dem vorgelegten Verwaltungsvorgang nirgendwo aktenkundig festgehalten, dass es sich hierbei um eine pathologische Verhaltensweise oder um den Ausfluss einer krankhaften Verhaltensstörung handelt. Das nach § 54 Abs. 4 Satz 2 SchulG für die Annahme einer Erkrankung des betreffenden Schülers erforderliche schulärztliche Gutachten liegt nicht vor. Vielmehr hat das von der Antragsgegnerin eingeschaltete Gesundheitsamt des Kreises C. mit Schreiben vom 11. März 2010 eine Überprüfung der Schulfähigkeit des Sohnes der Antragsteller abgelehnt. Der Schüler ist dem Gesundheitsamt bereits im Dezember 2009 im Rahmen eines Verfahrens über die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs vorgestellt worden, wonach das Gesundheitsamt zu der Feststellung gelangte, dass seitens der Schule überprüft werden müsse, ob sonderpädagogischer Förderbedarf (vermutet für den Bereich soziale und emotionale Entwicklung) vorliege. Eine diagnostische Krankheitsbewertung erfolgte jedoch nicht. Für eine erneute Untersuchung sah das Gesundheitsamt jetzt keine Veranlassung, da den übersandten Unterlagen der Antragsgegnerin nicht entnommen werden könne, dass sich der Gesundheitszustand von Q. in der Zwischenzeit geändert habe. Auch auf die vom erkennenden Gericht eingeholte ärztliche Stellungnahme der X. Klinik N1. -T. – I. – Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie vom 9. März 2010 lässt sich die von der Antragsgegnerin vorgenommene Krankheitseinschätzung nicht stützen. Nach der ärztlichen Stellungnahme von Dr. phil. W. leidet Q. u.a. an einer Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F 92.0) und an einer reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters (F 94.1). Dass sein Aggressionsverhalten krankhaft, also von ihm nicht steuerbar ist, lässt sich daraus nicht ableiten.
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Ebenso wenig bestehen Verdachtsmomente, die die Annahme einer Gefahr im Verzuge i.S.v. § 54 Abs. 4 Satz 3 SchulG rechtfertigen könnten. Hierfür reichen die von der Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren aufgeführten Störungen und Regelverletzungen nicht aus. Sofern diese Vorwürfe zutreffen – woran die Kammer nicht zweifelt -, wäre hierin zwar ein Aggressionsverhalten des Sohnes der Antragstellers zu sehen, dem aber mit erzieherischen Einwirkungen und ggf. schulischen Ordnungsmaßnahmen zu begegnen gewesen wäre. Greifbare Hinweise auf eine krankheitsbedingte Verhaltensstörung des Antragstellers ergeben sich daraus ohne weitere Substantiierungen noch nicht.
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Der angefochtene Ausschluss des Antragstellers vom Schulbesuch lässt sich auch nicht als Ordnungsmaßnahme auf der Grundlage des § 53 Abs. 6 Satz 1, Abs. 3 Nr. 3 SchulG aufrecht erhalten, wonach die Schulleiterin oder der Schulleiter eine Schülerin oder einen Schüler vorläufig vom Unterricht von einem Tag bis zu zwei Wochen oder von sonstigen Schulveranstaltungen ausschließen kann. Abgesehen davon, dass es der hier angefochtenen Maßnahme ihrer besonderen Eigenart wegen an einer Fristsetzung i.S.v. § 53 Abs. 3 Nr. 3 SchulG fehlt, wäre der Ausschluss des Antragstellers vom Schulbesuch als Ordnungsmaßnahme auch eine andere im Rechtssinne. Für ihre weiteren Überlegungen wird die Antragsgegnerin zu berücksichtigen haben, dass Ordnungsmaßnahmen nur dann verhältnismäßig sind, wenn erzieherische Einwirkungen nicht ausreichen.
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Die Kosten des Verfahrens hat nach § 154 Abs. 1 VwGO die Antragsgegnerin zu tragen, weil sie unterlegen ist.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG. Der festgesetzte Wert ist wegen des vorläufigen Charakters des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens mit der Hälfte des im Hauptsacheverfahren anzunehmenden Auffangwerts nach § 52 Abs. 2 GKG zu bemessen.